Literaturkritik

   

Über die Monographie von Dr. Elena Seifert „Gattungsprozesse und das ethnische Weltbild in der Poesie der Russlanddeutschen der zweiten Hälfte des 20. - Anfang des 21. Jahrhunderts“, die Anfang Juni in Buchform im BMV-Verlag Robert Burau erschienen ist.

Von Nina Paulsen

Elena Seifert

Der umfassenden Publikation (526 Seiten, russisch), die mit zahlreichen Fotos von Autoren und zwei farbigen Tabellen versehen ist, liegt die Doktordissertation (2008) der Autorin zugrunde. In der Studie behandelt die Literaturwissenschaftlerin Elena Seifert erstmals und auf einem anspruchsvollen wissenschaftlichen Niveau die Literatur der Russlanddeutschen als eine souveräne Erscheinung mit einem künstlerischen Potential, als ein Bestandteil der Weltliteratur. Anhand von zahlreichen Textbeispielen beweist die Autorin, dass „die Literatur kann das ethnische Weltbild insgesamt und die jeweilige Gattung ein bestimmtes Fragment der Ethnie widerspiegeln“. Bisher wurden die literarischen Gattungen noch nie im Kontext des ethnischen Weltbildes und der nationalen Schlüsselbegriffe analysiert.
711 Einzel- und Sammelbände von etwa 406 russlanddeutschen Autoren (deutsch- und russischschreibenden) hat die Wissenschaftlerin unter die Lupe genommen, dafür standen ihr weitere 575 Quellen zur Verfügung. Auch der Beitrag der sogenannten Massenautoren wurde berücksichtigt. Denn ein gewisser Aufschwung der Erinnerungslieratur in den letzten Jahren, als viele gebildete Verteter der Volksgruppe begonnen haben, Memoiren und Erinnerungsbücher zu verfassen, im Bestreben, den Nachkommen das Erlebte oder das noch im Unterbewusstsein Eingeengte zu vermitteln und eine gemeinsame Kulturlandsschaft des ethnischen Gedächtnisses zu schaffen, ist nicht von der Hand zu weisen. Auch die Zweisprachigkeit der Literatur der Deutschen aus/in Russland sieht die Wissenschaftlerin positiv, dadurch könne sie neue Energie generieren. Zwar habe die Literatur der Russlanddeutschen auf ihrem Entwicklungsweg die Einflüsse der deutschen und der russischen Kultur in sich aufgefangen, sie sei dennoch ethnisch selbstständig, so Seifert.
Mit der Erfosrchung der Literatur der Russlanddeutschen beschäftigt sich Elena Seifert (geb. 1973), selbst eine Russlanddeutsche, seit über neun Jahren. Bereits im Vorfeld ihrer Doktorarbeit tastete sie sich an das komplexe Thema heran, versuchte verschiedene Aspekte der russlanddeutschen Literatur immer wieder in Worte zu fassen – in Form von Buchkritiken, Autorenporträts oder Aufzeichnungen zu verschiedenen theoretischen Fragen. Die Literaturwissenschaftlerin, Kritikerin, Prosaikerin und Dichterin aus Karaganda (heute wohnhaft in Moskau) ist Preisträgerin einer Reihe von Literaturwettbewerben und Literaturpreisen, Autorin von mehr als 150 wissenschaftlichen Abhandlungen. 2007 wurde sie von Dr. Christoph Bergner, Beauftragter der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten, für ihren „herausgagenden Beitrag zur Erhaltung und Entwicklung der deutschen Ethnie in Kasachstan“ ausgezeichnet.

Am eindringslichsten hat Elena Seifert die russlanddeutsche Literatur der zweiten Hälfte des 20. – Anfang des 21. Jahrhunderts erforscht. Diese Jahrzehnte sind die schwierigsten, die komplexesten für die Volksgruppe, geprägt von Deportation, Arbeitsarmee, Sondersiedlung, vergeblichen Versuchen einer Autonomiewiederherstellung und massenhaftem Ausgang nach Deutschland. „Die fatale Lage, in die unsere Literatur aufgrund der Kriegsfolgenentwicklungen geraten war, sollte sie zu einer Fiktion verkümmern lassen, hat sie aber in ein Phänomen verwandelt. Das sowjetische Dogma hat die Literatur der Sowjetdeutschen zwar nicht vernichtet, aber doch entschieden verstümmelt“, sagt die Literaturwissenschaftlerin. Sowohl die Volksgruppe selbst als auch ihre Literatur bzw. Poesie befinden sich angesichts der nachhaltigen Diskriminierungsprozesse der Nachkriegszeit in der ehemaligen Sowjetunion und der Integrationsbemühungen in der historischen Heimat der Vorfahren in einem Umbruch, dessen Folgen noch nicht abzusehen sind. In solchen schicksalhaften Zeitabschnitten zeigt eine Ethnie besonders deutlich und intensiv ihre nationale Prägung, schlussfolgert die Autorin.
In ihrer Studie hat sie vor allem die Wechselwirkung zwischen den Gattungen und ethnischen Prozessen verfolgt. In der Literatur der Russlanddeutschen hat sich ihre Mentalität tief eingeprägt – diese Hypothese war das Ziel der Nachforschung. Aufgrund von literarischen, historischen, publizistischen und epistolarischen Quellen versucht die Wissenschaftlerin, das ethnische Weltbild der Russlanddeutschen zu rekonstruieren und seine grundlegenden Elemente zu beschreiben: die Erkenntnis, von einer fremden Umwelt umgeben zu sein; die Existenz mittendrin in einer anderen/fremden Ethnie; das Bestreben zur Autonomie, Absonderung; die Priorität der Statik über der Dynamik; das Gefühl „Nirgendwo in der Heimat“ zu sein oder „überall eine Heimat“ zu haben; die genetische Angst vor der Vertreibung; der Zustand einer dauerhaften Verwundbarkeit, Anfechtbarkeit; die Angst aus dem Mittelmaß herauszuragen; ein erhöhtes Interesse für die pflanzliche Symbolik (schwache Pflanzen, Pflanzen ohne Wurzeln); ein zugespitzter Wunsch nach einer gerechten Behandlung, einem gerechten Verhalten gegenüber der eigenen Ethnie; das Bestreben, die Eigenart/Besonderheit der eigenen Ethnie hervorzuheben; das bestreben zur Integration innerhalb der eigenen Ethnie. Im Buch werden auch die grundlegendsten Begrifflichkeiten und Schlüsselbegriffe der Russlanddeutschen wie “das Heim”/“die Heimat”, “die Angst” (wegen der Verwundbarkeit), “der Weg”, “die Verbannung”, “das Recht”, “die Gerechtigkeit”, “die Hoffnung” definiert.
Die Gattungslandschaft der Poesie der Russlanddeutschen unterteilt die Autorin in drei große Gruppen. Die erste umfasst lyrische Gattungen mittleren Umfangs (das Lied und seine Formen, das Idyll, die Elegie, die Botschaft). Zur zweiten Gruppe gehören die lyrisch-epischen und epischen Gattungen (das Poem, die Fabel, die Ballade, der Schwank). Die dritte Gruppe umfasst große Gattungsformen wie Buch, Zyklus, religiöse Gattungen (Auszug, Gebet, Psalm), aber auch feste Gattungsformen wie Sonett, Sonettkranz, Haiku, Spruch, Dreizeiler, Vierzeiler und Achtzeiler. Dabei betrachtet Seifert die russlanddeutsche Literatur als einheitliches Subjekt und die Gattungsprozesse als einheitlichen geschlossenen Prozess. Die Analyse erfolgt anhand von Texten verschiedener Autoren, wobei die Individualität jedes einzelnen berücksichtigt wird.
Von Seiten der Literaturwissenschaftler, Geschichtsforscher und Autoren wird die Studie hoch bewertet, als „maßgebendste und detaillierteste von allen, die bisher unternommen wurden“ und „damit legt die Autorin den Grundstein für lokale Forschungen der weitgehend unerschlossenen Thematik“. Dazu ein Zitat des russlanddeutschen Schriftstellers und Literaturkritikers Herold Belger: „Eine einzigartige, aktuelle Forschungsarbeit, die einen mächtigen Impuls zur Entwicklung der Literatur gibt, die durch des Schicksals Fügung am Scheideweg des Geistes steht“.

Dr. Elena Seifert „Gattungsprozesse und das ethnische Weltbild in der Poesie der Russlanddeutschen der zweiten Hälfte des 20. - Anfang des 21. Jahrhunderts“; ISBN: 978-3-935000-68-0; Preis 34,90 Euro.
Bestellungen: BMV – Verlag Robert-Burau